Foyer Features

Von Joelle Lieser

 

Michael Ziesenis besucht seit fünf Jahrzehnten regelmäßig Vorstellungen des Staatstheaters, häufig sieht er sich Produktionen mehrmals an. Darüber hinaus gibt er Führungen im Opernhaus und tanzt im Ballettformat Cool Down.

 

Michael Ziesenis

 

Seit wann gehen Sie ins Theater?

 

Michael Ziesenis: Seit Anfang der 70er Jahre, etwa seit ich in der fünften Klasse war. Hier am Theater hat damals ein Dramaturg gearbeitet, der sich sehr für Jugendarbeit engagiert hat und dem klar war, dass man die Jugend begeistern muss, um auch in 50 Jahren noch Publikum zu haben. Dieser Dramaturg hat damals an Hannovers Schulen Kontaktpersonen gesucht, die dann in Korrespondenz zu Oper und Theater standen. In diesem Rahmen wurden Führungen veranstaltet, man bekam günstige Karten für Oper und Theater und konnte hinter die Kulissen blicken. Ähnliche Formate gibt es ja heute noch. Für mich persönlich war es aber immer spannender im Saal zu sitzen, als zu wissen, wie es hinter den Kulissen aussieht. Das geht mir auch heute noch so. Für mich wird diese Illusion zerstört, wenn ich zu viel darüber weiß. Zu sehen, was im Hintergrund einer Vorstellung abläuft, kann mitunter ziemlich ernüchternd sein.

 

Außerdem waren meine Eltern zum Glück immer sehr theaterbegeistert und auch interessiert an klassischer Musik. Sie haben mich schon sehr früh in Vorstellungen mitgenommen Da hat es mich einfach erwischt. Und es hat mich auch nicht wieder losgelassen. Jetzt bin ich 60 und diese Begeisterung für das Theater hat sich knapp 50 Jahre gehalten. Ich spreche dabei übrigens vom Theater als Ganzem, nicht nur von der Oper. Beides ist für mich sehr besonders. Man kann sich zehnmal die gleiche Produktion anschauen, und jede Vorstellung ist anders. Je besser man die Inszenierung kennt, desto mehr Details fallen einem auf. Natürlich merkt man dann auch, wenn mal etwas schiefgeht. Ich war zum Beispiel viermal in La Juive und habe beim letzten Mal Sachen gesehen, die mir die vorherigen Male gar nicht aufgefallen waren. Aber diese Inszenierung war auch einfach sehr detailreich. Übrigens war es für mich auch sehr faszinierend, dass ich schon so lange in die Oper gehe und so viele Stücke gesehen habe, und mir dieses Stück vorher trotzdem noch nie begegnet ist. Ich finde es auch unwahrscheinlich mutig, als neue Intendantin mit so einem Stück in die erste Spielzeit zu starten. Nicht nur, weil es ein relativ unbekanntes Stück ist, sondern weil es auch ein mutiges Thema ist. Apropos Thema. Dass The Greek Passion jetzt nicht stattfinden kann, finde ich sehr bedauerlich. Diese Thematik mit Flüchtlingen hätte hundertprozentig in diese Zeit gepasst. Es tut mir auch unendlich leid für das Team, das wirklich nur eine Woche vor der Premiere die Arbeit niederlegen musste. Ich hoffe, dass es im September Premiere hat, aber es wird sehr schwer.

 

Erinnern Sie sich noch an das erste Stück, das Sie im Theater gesehen haben?

 

Michael Ziesenis: Das Staatsschauspiel hat früher immer Weihnachtsmärchen im Theater am Aegi gespielt. Da war ich als Kind, habe aber keine wirkliche Erinnerung daran. Die ersten Vorstellungen, an die ich mich dann wirklich erinnere, sind Gastspiele, zum Beispiel mit Hans-Joachim Kulenkampff und Johanna von Koczian, da meine Eltern ein Abo am Theater am Aegi hatten. Von Anfang an habe ich mir immer Programmhefte gekauft, daher weiß ich ziemlich genau, welche Oper ich als erstes gesehen habe: Gershwins Porgy and Bess im Jahr 1974. Danach wollte ich mehr sehen, aber ich wollte komischerweise nie am Theater arbeiten. Mir war es wichtiger im Publikum zu sitzen. Abgesehen von Porgy and Bess war ich sicher auch mal mit der Schule in Hänsel und Gretel, wie die meisten Hannoveraner.

 

Was gehört für Sie zu einem gelungenen Theaterabend dazu?

 

Michael Ziesenis: Ein Theaterabend ist für mich gelungen, wenn mich das Gesehene berührt hat und ich sofort den Drang habe, mir das Stück nochmals anschauen zu müssen. Bei manchen Vorstellungen stockt mir der Atem, weil es so spannend und aufregend ist. Wenn man viel in die Oper geht, trifft man natürlich auch Leute in der Pause, die man kennt. Aber das ist für mich nicht so wichtig wie die vermittelten Gefühle.

 

Ich betone übrigens auch immer in meinen Führungen, dass das deutsche Theatersystem weltweit einmalig ist. Wie viele Theater es auf vergleichsweise kleinem Raum gibt und wie vielfältig diese Theaterlandschaft ist, darauf können wir sehr stolz sein. Wenn man bedenkt, dass die Subventionen für Theater im Prinzip nur einen Bruchteil des deutschen Haushaltes betragen, und dieses Geld trotzdem schon für diese Vielfalt sorgt. Dazu zählen auch die diversen Angebote für Schüler*innen und Studierende, die manchmal sogar kostenlos ins Theater gehen können.

 

Obwohl Sie nie am Theater arbeiten wollten, engagieren Sie sich sehr. An welchen Angeboten und Formaten nehmen Sie teil?

 

Michael Ziesenis: Ich gehe seit sechs oder sieben Jahren jede Woche zu den Spätbewegten im Ballett, was seit dieser Spielzeit Cool down heißt. Ein Balletttänzer aus der alten Compagnie hat damals ein Programm entwickelt für Menschen ab 50 Jahren. Wir treffen uns also einmal die Woche und bewegen uns unter Anleitung eines Balletttänzers. Da ja allgemein bekannt ist, dass man sich seine Bewegungsfähigkeit erhalten muss, hat mich ein Freund mal mitgenommen. Diese Kurse haben eigentlich lange Wartelisten, aber da Männer dort Mangelware sind, konnte ich relativ schnell mitmachen. Für uns war der Wechsel zur neuen Compagnie natürlich auch sehr spannend. Ballettabende waren vor dieser Spielzeit anders als jetzt unter Herrn Goecke und wir haben uns gefragt, wie wir uns in dem Kurs zukünftig bewegen. Teilweise ist es tatsächlich etwas zackiger und schneller geworden, aber es macht einfach Spaß. Deshalb bedaure ich sehr, dass das während Corona nicht stattfindet.

 

Dann gibt es noch das Korea-Projekt, das vor zehn Jahren begann. Damals gab es einen koreanischen Tenor hier am Haus, Sung-Keun Park, der seit Mitte der 90er Jahre in Deutschland lebt und die Idee hatte, mit seiner koreanischen Universität jedes Jahr zehn Student*innen auszusuchen, die dann für drei bis vier Wochen nach Deutschland kommen. Er hatte sich nämlich daran erinnert, wie schwer es für ihn am Anfang war, in Deutschland Fuß zu fassen und zu lernen, wie Theater hier funktioniert. Die Student*innen nahmen hier in Deutschland an Workshops teil und hatten Gesangs- und Sprachunterricht und auch szenisches Training. Also wirklich eine breite Palette an Angeboten. Im ersten Jahr waren sie noch in einer Jugendherberge untergebracht, aber da sie dort die ganze Zeit unter sich waren und nicht mehr von Deutschland gesehen haben, als den Weg von der Jugendherberge zur Oper, hat man sie ab dem zweiten Jahr bei Gastfamilien einquartiert. Als dann zehn Gasteltern gesucht wurden, wurden wir angesprochen und haben uns dazu bereit erklärt, im absoluten Notfall auch jemanden aufnehmen zu können. Aus heutiger Sicht kann ich nur sagen: Danke, dass dieser Notfall eingetreten ist. Die letzten neun Jahre hatten wir so jeden Januar und Februar Student*innen zu Gast, mit denen wir dann auch Ausflüge gemacht haben, zum Beispiel nach Berlin oder Hamburg, damit sie noch mehr von Deutschland sehen als nur Hannover. Nur schade, dass sie Hannover zu dieser Jahreszeit nie mit Sonnenschein und angenehmen Temperaturen erlebt haben. Mit einigen haben wir auch bis heute intensiven Kontakt, und manche sind mittlerweile sogar fest an einem deutschen Theater engagiert. Übrigens haben die Gasteltern untereinander auch intensiven Kontakt, und 2016 hat uns die Yonsei Universität, mit der die Kooperation besteht, nach Korea eingeladen. Und nachdem ich für die Koreaner auch schon Führungen durch die Stadt und durch die Oper organisiert habe, gebe ich seit zwei Spielzeiten selbst Führungen durch das Opernhaus.

 

Dann kennen Sie sich mittlerweile ja doch ganz gut hinter den Kulissen aus.

 

Michael Ziesenis: (lacht) Ja, aber ich freue mich doch immer, wenn ich die Bühnenbilder wieder von der anderen Seite sehe. Trotzdem sind diese Bühnenaufbauten natürlich sehr beeindruckend. Vor allem die neue Drehbühne, die in den bisherigen Stücken, meiner Meinung nach, schon sensationell eingesetzt wurde. Bei den Führungen versuche ich dann immer, den Menschen etwas von meiner Begeisterung mitzugeben. Viele Teilnehmende der Führungen waren selbst noch nie wirklich im Theater, höchstens in Musicals.

 

Haben Sie denn eine Lieblingsoper oder ein Stück, das Sie ganz besonders begeistert?

 

Michael Ziesenis: Über diese Frage habe ich tatsächlich heute Morgen schon nachgedacht und bin zu dem Schluss gekommen, dass ich jede Spielzeit eine Lieblingsoper habe. Diese Spielzeit war das ganz eindeutig La Juive. Diese Produktion hat mich umgehauen. Die Musik, die Inszenierung, die Sänger*innen, da hat alles gestimmt. Abgesehen davon noch Der Barbier von Sevilla. Aber eine richtige Lieblingsoper habe ich nicht.

 

Wir haben eben schon kurz über die Coronakrise gesprochen. Haben Sie sich online Vorstellungen angeschaut während der Quarantäne?

 

Michael Ziesenis: Ich habe im Fernsehen eine Inszenierung der Zauberflöte gesehen und Carmen an der Staatsoper Berlin. Außerdem habe ich den Online Spielplan der Staatsoper Hannover verfolgt. Mir gefällt die Idee mit den Balkonkonzerten sehr gut, bei denen das Theater kleine, unangekündigte Konzerte in verschiedenen Stadtteilen gibt. Es ist gerade sicher ganz besonders wichtig, Präsenz zu zeigen, vor allem analog. Es gibt ja sehr viele Online Angebote, aber vor einem Bildschirm zu sitzen, kann einen Theaterabend nicht ersetzen. Es ist Konserve und die Atmosphäre und die Akustik fehlt. Aber natürlich kann man momentan keine Massen auf die Bühne stellen. Chor, Solist*innen und Orchester in einem geschlossenen Raum und dazu das Publikum. Zwar wäre es möglich, die Menschen mit Sicherheitsabstand über den Raum verteilen, aber das ist für die Auftretenden sicherlich auch frustrierend, wenn sie für einen fast leeren Raum singen. Und das größte Problem ist natürlich diese Ungewissheit, dass man nicht weiß, ob und wann man wieder spielen kann. Ich freue mich aber auf die Vorstellungen in Herrenhausen und hoffe, dann bald wieder das Opernhaus durch den Vordereingang betreten zu können.

 

Das Interview wurde von Joelle Lieser geführt.

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