Foyer Features

Von Joelle Lieser

 

Nadia Kurtul arbeitet beim interkulturellen Verein Can Arkadaş e.V. Sie hat es sich zur Aufgabe gemacht, Familien und besonders Kindern mit Migrationshintergrund den Weg zu kulturellen Institutionen zu ebnen, und besucht häufig Vorstellungen mit ihren Gruppen.

 

Nadia Kurtul
 

Frau Kurtul, es ist Ihr Job Menschen mit Migrationshintergrund an verschiedene kulturelle Institutionen heranzuführen. Was motiviert Sie dazu?

 

Nadia Kurtul: Wir sind ein Verein, der in den Bereichen Senioren, Frauen und Kultur unterwegs ist. Seit längerem versuchen wir, Menschen mit Migrationshintergrund die Wege ins Theater, aber auch in andere Kultureinrichtungen zu vereinfachen, beziehungsweise ihnen die Angst davor zu nehmen. Wenn man in die Oper geht, sieht man, wie wenige Menschen mit Migrationshintergrund dort sitzen: Vermutlich nicht mal 5%. Es ist schwer, Menschen, die von klein auf keine Berührung mit klassischer Musik hatten, überhaupt an solche Kulturveranstaltungen zu gewöhnen. Selbst bei Jugendlichen ist es schon schwierig. Daher versuchen wir erstmal, die Kinder in die Oper zu bringen. Das liegt, denke ich, nicht zuletzt an diesem großen Gebäude, das die Migrant*innen zunächst abschreckt. „Oper“ hört sich so vornehm an, irgendwie glamourös, und es klingt nach Geld haben und gut situiert sein. Ich denke, es ist auch wichtig mit den Schulen zu kooperieren, die Kinder an die Musik und an das Theater heranzuführen und Workshops zu veranstalten. Wir hatten hier zum Beispiel mal einen Workshop, bei dem Kindern und Jugendlichen ein Bild von der Oper vorgehalten wurde und keines der Kinder wusste, dass dieses Gebäude das Opernhaus ist. Im Übrigen waren an diesem Tag auch viele deutsche Kinder dabei, die das Gebäude nicht kannten. Hannover ist keine große Stadt, da ist das schon bezeichnend.

 

Deswegen finde ich es auch super, dass wir hier die Möglichkeit haben, mit kleinen Gruppen Vorstellungen zu besuchen. Ich habe mich gefragt, woran das liegt, dass Menschen mit Migrationshintergrund nicht von selbst ins Theater gehen, denn am Preis der Karten wird es wohl nicht liegen. Wenn man finanzielle Unterstützung beansprucht, bekommt man sehr günstige Karten. Es liegt also daran, dass die Menschen noch keine Berührungspunkte damit hatten. Wir veranstalten Kulturtage, die jedes Jahr stattfinden, an denen wir die Menschen an die verschiedensten Kulturinstitutionen heranführen, damit sie sich gewöhnen, dorthin zu gehen, und dies irgendwann hoffentlich auch ohne uns tun. 

 

Worin sehen Sie Besonderheiten im Theater als Kunstform, die Menschen mit anderem kulturellen Hintergrund ansprechen? Sprich, was unterscheidet das Theater von Institutionen wie zum Beispiel Museen und Kinos?

 

Nadia Kurtul: Museen werden, wie auch Theater, eher weniger von Menschen mit Migrationshintergrund besucht, daher haben wir auch schon einige Veranstaltungen in Museen organisiert. Diese Veranstaltungen wurden ebenfalls immer gut aufgenommen. Aber ich finde, Theater ist einfach ein Erlebnis. Ich weiß nicht, ob es an dem Ort liegt oder an dem Gefühl, das man dort hat. Für mich strahlt jeder Theaterbesuch Ruhe aus, eine angenehme und entspannte Umgebung. Eine weitere Besonderheit ist auf jeden Fall die Überraschung. Vor einem Theaterbesuch kann man sich keinen Trailer oder Teaser anschauen wie vor einem Kinobesuch und selbst wenn es schon vorab etwas zu sehen gibt und man mit einer gewissen Erwartung dort hingeht, wird der Theaterbesuch meist komplett anders. Bei mir war es bisher sogar immer so, dass meine Erwartungen noch übertroffen wurden. Bei Theaterbesuchen habe ich daher eine andere Einstellung als zum Beispiel bei Kinofilmen. Wenn mir dort etwas nicht gefallen hat, spreche ich von einem blöden Film. Wenn mir ein Theaterstück nicht gefallen hat, schiebe ich es entweder auf die Inszenierung oder sage mir, dass der/die Schauspieler*in vielleicht keinen guten Tag hatte.

 

Haben die Familien, die Vorstellungen besucht haben, etwas berichtet? Wie hat es ihnen gefallen?

 

Nadia Kurtul: Bisher waren alle begeistert, vor allem die Kinder. Egal, ob das ein Ballett, ein Musical oder das Kinderfest war. Die Kinder saßen im Publikum mit großen Augen und waren mucksmäuschenstill, obwohl das Stück 80 oder 90 Minuten dauerte und die jüngsten erst sechs Jahre alt waren. Man darf nicht unterschätzen wie wichtig es ist, schon von klein auf mit sowas in Berührung zu kommen. Und ich glaube nicht, dass das nur für Migrantenkinder gilt. Wenn es diese Berührungspunkte nicht gibt, geht irgendwann das Interesse an dieser Kunst verloren und Kultureinrichtungen müssen schließen.

 

Wie schafft man Ihrer Meinung nach Voraussetzungen für Diversität in diesem Kulturbereich?

 

Nadia Kurtul: Bei den deutsch-türkischen Kulturtagen 2017 gab es eine Podiumsdiskussion zu Diversität im Theater. Dafür haben wir Mustafa Akça von der Komischen Oper Berlin eingeladen, der Ansätze zur Lösung dieser Situation vorgeschlagen hat. Zum einen sollte die Besetzung der Künstler*innen diverser und interkultureller werden. Dann ist es wichtig, dass die Besucher*innen mit Migrationshintergrund auch andere Menschen mit Migrationshintergrund sehen und sei es erstmal an der Kasse und im Einlass. Dabei geht es um das Wohlfühlen. Ich habe mir das zumindest immer gewünscht. Natürlich ist auch das Programm nicht unwichtig. Es sollte interkulturell sein und Menschen mit Migrationshintergrund ansprechen. Ich finde es gut und wichtig, dass sich Menschen Gedanken machen, wie man andere Zielgruppen ins Theater bekommt, und hier in Hannover leben nun mal viele Migrant*innen. Solange sich in diesen Punkten nichts ändert, wird es wahrscheinlich auch keine große Veränderung im Publikum geben.

 

Gibt es Themen, bei denen Sie sich wünschen würden, sie würden im Theater aufgegriffen und behandelt?

 

Nadia Kurtul: Ich kenne nicht jedes Stück, deshalb weiß ich nicht, ob nicht ganz viele Themen schon angesprochen werden. Mir wären aber Themen wichtig, die vor allem Jugendliche und junge Erwachsene ansprechen. Themen, die vielleicht im ersten Moment abschreckend sind, aber mit denen man doch Publikum anlockt. Dazu zählen zum Beispiel Rassismus, neue Medien und ihre Auswirkung und Stalking. Vielleicht sogar Dinge, die eher cineastisch sind. So würde man, denke ich, die junge Generation besser erreichen. Ich finde es auch sehr gut, dass so viele Stücke für Kinder gespielt werden. So werden sie von Anfang an ans Theater herangeführt.

 

Sie gehen selbst häufig ins Theater. Gibt es da bei Ihnen persönlich ein Stück, das Sie besonders berührt hat?

 

Nadia Kurtul: Das erste Stück, dass ich in einem Theater gesehen habe, war Grease, das Musical. Das hat mir sehr gut gefallen. Rückblickend weiß ich nicht, ob es daran lag, dass es mein erster Theaterbesuch war. Das Bühnenbild und die Kostüme waren sehr schrill und es wirkte alles sehr fröhlich. Das ist für mich auch noch ein anderer Aspekt von Theater: Es darf auch einfach mal Freude bereiten. Stücke, die vielleicht nicht zum Nachdenken anregen, aber an die man eine gute Erinnerung hat und die dann auch anregen, nochmal ins Theater zu gehen.

 

Ich habe aber leider auch schon negative Erfahrungen gemacht. Einmal war ich mit einer Gruppe Kinder in einem Ballett. Die Vorstellung fand morgens statt und es waren unheimlich viele Kinder im Theater. Meine Gruppe hat sich sehr gut verhalten und ich war sehr stolz darauf, dass sie so gut zugehört haben. In der Pause waren sie dann ein bisschen quirliger, was aber auch total in Ordnung ist, wenn sie sonst die ganze Zeit stillhalten. In der Reihe vor uns saß ein Ehepaar, das sehr schick und vornehm gekleidet war und das sehr genervt war von meinen Kindern, die hin- und herliefen. Sie haben sich wohl so sehr gestört gefühlt, dass sie sich noch in der Pause äußerst demonstrativ weggesetzt haben. Eine Mutter, die meine Gruppe begleitet hat, war über dieses Verhalten sehr irritiert. Wie gesagt, es war Pause. Diese Mutter war an dem Tag das erste Mal überhaupt mit ihrem Kind im Opernhaus. Wenn ich Menschen mit Migrationshintergrund dort hinbewege, und sich andere Menschen so kontraproduktiv verhalten, dann ist das für die Migrant*innen, die es sowieso schon schwer haben, überhaupt in die Oper zu kommen, natürlich ein sehr negatives Erlebnis, das auch prägt. Ich bin daraufhin aufgestanden und habe so laut gesagt, dass das Ehepaar das sicher auch noch gehört hat: „Ich finde das nicht in Ordnung. Es ist Pause und es ist absolut okay, wenn die Kinder sich bewegen.“ Ich hoffe, das haben sie gehört. Denn der Punkt ist, wenn diese Mutter nun einigen anderen Müttern von diesem Erlebnis erzählt, dann ist das für diese anderen Mütter eine neue, zusätzliche Hemmung ins Theater zu gehen. Man fühlt sich nicht erwünscht.    

 

Dieses Erlebnis war aber zum Glück eine Ausnahme. Ich nehme meinen fünfjährigen Sohn häufiger mit, und mir ist es sehr wichtig, dass er das Theater früh kennenlernt. Immer, wenn wir über den Opernplatz gehen, und er sagt „Mama, schau mal. Da waren wir schon. Das ist die Oper“, dann freue ich mich sehr. Er hält auch wirklich immer die ganze Vorstellung lang still. Das ist für mich immer am schönsten.

 

Das Interview wurde am 20.05.2020 von Joelle Lieser geführt.

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