von Mazlum Nergiz

 

Heute habe ich das Bild, von dem ich Dir erzählt habe, beendet: krumme, tanzende Linien, ineinander verschlungen, dick und schwarz. Vielleicht lasse ich es noch regnen und bombardiere die Leinwand mit einem gelben Schauer. Wieso krumm, warum tanzend, wieso dick, warum schwarz?, hättest Du mich bestimmt alles gefragt. Egal jetzt. Gründe gehören zur Vergangenheit. Du, die Du immer alles erklärt haben wolltest. Wer spurlos verschwindet, dem muss ich auch nichts mehr erklären. Für Dich male ich absichtlich grundlos. Ich male nur noch mit dem Finger. Ich werde mir fremd beim Fingermalen, als würde ich in meiner eigenen Sprache als Fremde sprechen. 

 

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Sie fragen, ob ich mich verraten fühle. „Kein Abschiedsbrief, keine Warnung. Noch nicht mal um Rat gefragt bei ihrer besten Freundin. Sich einem bewaffneten Widerstand anschließen. Einfach so. Aus dem Nichts. Wer macht so was?“ Aber alles Spekulation. Niemand weiß irgendwas. Oder bist Du einfach durchgebrannt? Willst uns alle im Glauben lassen, Du hättest für einen guten Zweck Dein Leben aufgegeben? Ist das ein guter Zweck? Abwarten, sagen sie, irgendwann tauchst Du schon wieder auf. „Die Videos sehen gar nicht so übel aus. Wilde philosophische Diskussionen, die Ihr miteinander führt, Teetrinken und Wandern in den kurdischen Bergen. High Life.“ Immer wenn sich das Gespräch um Dich dreht, fange ich mich auch an zu drehen, und mir wird übel. 

 

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Warum hättest Du irgendjemanden informieren müssen? Du schuldest niemandem etwas. Ich wette mit Dir, selbst wenn Du in einem Brief Deine Gründe und Absichten glasklar ausgebreitet hättest, am Ende erzählen die Leute trotzdem, Du hättest Liebeskummer gehabt und wärst gierig nach Ruhm gewesen. Es ist ja so: Deine Geschichte gehört immer schon den anderen, noch bevor Du Dich wehren kannst.

 

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Ich verbringe Tage, die sich weiten wie Ballons, die nicht platzen. Ich schreibe Dir mit all meinen Fingern, auf der Zunge den Geschmack nach Sein, und der Geschmack-nach-Dir ist so abstrakt wie die schwarzen Linien, die ich male. Wenn ich meine Finger in den Eimer voller zähflüssiger Farbe tunke und ich nicht schnell genug alles auf die Leinwand werfe, tropft die Farbe in unregelmäßigen Intervallen auf den Boden. Als würde ich schwarz bluten. In was habe ich mich verwandelt, in welche Eiterbeule gestochen, welche Schicht aufgebrochen? 

 

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Aktiv verschwinden. Aktiv verschwunden. Das bist Du. So wie Bas Jan Ader. Dieser niederländische Künstler. Ich glaube, ich habe Dir von ihm erzählt bei unserem letzten Mittagessen beim Griechen. In Search of the Miraculous heißt seine Arbeit von 1975, und sie bestand in einer Überfahrt von Nordamerika nach Europa in einem Boot namens „Ocean Wave“. Man sagt, er sei dabei ertrunken, aber man weiß auch hier wieder: absolut nichts. Er gilt seitdem als verschollen. Es sucht zwar meines Wissens nach niemand mehr nach ihm, aber die Aura, die the miraculous one uns hinterlassen hat, ist eine göttliche: ausschließlich in seiner Abwesenheit anwesend.

 

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In einem Buch diese Stelle gefunden und musste an Dich denken. „Wie ein Taxi sollte man sein: mit Halteplatz, Fluchtlinie, Verkehrsstau, Engpass, Rot- und Grünampel, leichter Paranoia, einem gebrochenen Verhältnis zur Polizei.“

 

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Letzte Nacht war lang. Schaute mir stundenlang Videos vom 11. September an: Wie sich die Menschen aus den zwei rauchenden Türmen werfen. Sie sehen aus wie Engel, sie fallen und fallen, und es fühlt sich an wie Unendlichkeit. Wie sieht eigentlich ein aufgeschlagener Körper aus? Meinst Du, der Körper wird zerfetzt, zersplittert und fliegt in alle Richtungen? Oder implodiert einfach nur alles und die Hülle bleibt ganz?

 

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Was sind das für in Verzückung geratene Tänzer, die ich auf die Leinwand beschworen habe? Ich will, dass sie zittern. Stocken. Tänzer, die nicht tanzen. Würden sie doch stottern oder stammeln. Jetzt gerade zögern sie aber nur und sehen dabei grazil aus, zu schön. Zögern ist doch das Gegenteil von Schnelligkeit, von Werden, das zweifelt. Ich habe gezögert beim Malen. Zögern ist der Tod jeder Kunst. Eine runde Kunst würde jedes Innehalten ausrutschen lassen. Genickbruch. Ich male und schreibe rund wie ein Stein, der rollt: Richtung unbekannt. Aufbruch ohne Rückkehr. Keine Geschichte, keine Vergangenheit. Ich nehme nur auf und blicke nicht zurück. Alles rollt. Alles ist im Werden. 

 

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Heute habe ich geträumt: Du bist gerannt und hast nicht aufgehört zu rennen. Ich war paralysiert. Es war ein strahlend heller Tag. Mai. Frühsommer. Aber es regnete unerbittlich. Das Wasser riss schließlich die Haut auf. Die Stadt war kurz davor, ein Fluss ohne Ufer zu werden. Das Licht an diesem Tag war das eines sterbenden Sterns. Die Umrisse der Dinge, Häuser, Bäume, Autos und Menschen wurden porös. Als ob die Menschen über dem Boden schweben würden. Die Sonne war untergegangen, aber aus irgendeinem Grund wurde es nicht dunkel: Das Licht fühlte sich an, als käme es von überall. Ich schaute auf meine Uhr. Jetzt. Der unaufhörliche Regen ließ die laufenden, schwach leuchtenden Körper wie einen Fliegenschwarm aussehen. Die wahnsinnige Formation löste sich in dem Moment auf, in dem sie sich aufbaute. Glühend. Schwebend. Auflösend. Du liefst einfach weiter. So abwesend. Blind. Als hättest Du nicht wirklich Angst vor mir, sondern vor jedem, der sich Dir nähert. Was war Dein Plan? Du hattest sicher einen. Der Regen schien die Stadt auszulöschen. Bald würden die Straßen überflutet sein. Ich rief Deinen Namen. Du wolltest nicht aufhören zu rennen. Die Stadt endete, bald begann der Wald. Der Wind ließ die Bäume in Ekstase tanzen. Du ranntest ins Grüne. Du wurdest grüner als Gras. Der schlammige Weg zerschellte mit jedem Deiner zaghaften Schritte wie tosende Wellen. Der Wald umarmte Dich inzwischen ganz. Die Bäume. Steigend und fallend. Deine Augen kreuzten den Himmel. Als würdest Du fliegen. Aber es war das Wasser, das Dich zu den Kronen hinauftrug. Du hattest die Baumkronen erreicht, Dich umgedreht, zurückgeschaut, die ganze Stadt unter Deinem Blick. Ein letztes Mal. Hast Du mich gesehen? Ich werde mit Dir sein. Für immer. Und Du sprangst von Baum zu Baum. Bald konnte man Dich nicht mehr sehen. Zurück zu den Schatten, aus denen Du aufgestiegen warst. Es wurde dunkel. Nacht. Schlaf. Die Sterne.

 

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Ich muss Dir auch schreiben, dass ich im Botanischen Garten war. Dort ist täglich von 8 bis 17.30 Uhr die Vergangenheit ein offenes Buch. In den verbundenen Sälen ausgestopfte und konservierte Tiere nach der abgeleiteten Ordnung der Schöpfung. Entwässerte Körper, getrocknete Federn, Fell, Haut. Lebensechte Glasaugen. Tote Werke, die unendlich verlangsamte Bewegung festhaltend. Verehrung des Lebens. Evolution als Metapher für Tod. Die Welt der Mineralien und Gesteine: regungslos. Und dann: Libellen. Hinter Vitrinengläsern. Wie sie sich krümmten. Die Nadeln glitzerten in ihren Leibern. Mit ihren großen aufgespaltenen Augen starrten sie mich an. Die Bilder unseres ersten gemeinsamen Films flackerten in den Augen der Libellen auf. Obsessiv hatten wir versucht, Libellen einzufangen. Das Schwirren ihrer Flügel − genauer: den Umschlag von Bewegung ins Zittern, vom Stottern zum Stillstand − wollten wir näher beobachten. Nicht viele fielen in unsere Fallen, aber die Gefangenen durchbohrten wir mit Nadeln und ließen sie fliegen. Du hast diese Choreographie der durchstochenen Libellen gefilmt. Wie sie versuchen, gegen die Schwerkraft anzukämpfen. Die Nadeln leicht genug, um sie noch kurz hochbrausen zu lassen, zu schwer, um in der Luft zu bleiben. Wir haben uns nie getraut, den Film in der Klasse zu zeigen. Besser so.  

 

Im Eingangsbereich des Botanischen Gartens überall Plakate, die „Le blob“ im Parc zoologique Zoo bewerben. Ein Schleim im Zoo? Bei der letzten Pestepidemie, 1679, wussten die Menschen sicherlich noch nichts von ihm! Bevor ich mir den „blob“ anschaute, setzte ich mich aber in den Botanischen Garten und frühstückte. Ich bin in den Botanischen Garten spaziert, nachdem ich gelesen hatte, dass eine junge Kämpferin aus England gefallen ist. Sie war 26 Jahre alt und war erst vor ein paar Monaten nach Rojava gekommen. Ihr Name war Anna. Anna Campbell. Sie hatte ihre blonden, kurz geschnittenen Haare gefärbt, um zwischen all den schwarzhaarigen Frauen weniger aufzufallen. Ich stelle mir vor: wie sie sich am Abend zuvor noch die Haare schwarz gefärbt hatte, und am nächsten Tag wurde sie von einer Drohne zerfetzt. Schon wieder ein Körper verschwunden, hier und dort. Wo ist dieses Dort? Hier. Und wo bist Du? Schon wieder ein Körper in Rauch aufgegangen. Anna ist gegangen, hat stolz ihre Familie vorher informiert, keine Widersprüche gelten lassen. Jetzt ist sie tot, und ihre Bilder fliegen wie Kometen durch das Internet, die ewig die Seelen der zahllosen Märtyrerinnen wiedergebären werden. Menschen verschwinden, aber sprechen noch zu mir von einem Ort, den es nicht gibt. Deinen Ort gibt es auch nicht, weil ich ihn nicht kenne, aber zu mir sprichst Du ja auch nicht. Menschen werden in den Tod hineinkatapultiert, besitzen aber noch die Kräfte von Lebenden. Ihre Bilder verbinden mich mit der Unterwelt, die Kommunikationskanäle zwischen ihnen und mir sind jetzt offen und zur freien Verfügbarkeit nutzbar, als ob die umherziehenden Bilder einen Ersatz für ihre verschwundenen Körper bieten würden. Von Dir aber: nichts. Haben sie Dich noch vor Deinem obligatorischen Fototermin in die Luft gejagt? Bist Du überhaupt zum Shooting erschienen?

 

Physarum polycephalum. Nicht wirklich ein Publikumsmagnet, dieser Pilzschleim. Kein Gehirn, keine Pflanze, kein Tier, aber: perfekter Orientierungssinn, großer Hunger, und 720 Geschlechter noch dazu. Benannt ist der Schleim nach einem trashigen B-Horrormovie, The Blob. Darin landet eine alienhafte Kreatur auf der Erde und verschlingt die Bewohnerinnen von Pennsylvania. Der Trailer des Films endet mit dem Satz: „Terror has no shape.“

 

 

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Im Text finden sich direkte und indirekte Verweise auf den Zyklus BERLIN HAMLET von Szilárd Borbély.

 

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Mazlum Nergiz *1991, studierte Medienkunst, Theater- und Literaturwissenschaft in Berlin, Weimar und Amsterdam. Sein Essay Falten und Inseln erschien bei Matthes & Seitz, die Kurzgeschichten 392 Tage der Visionen und Ausweitung des Feuers bei Spector Books. 2022 entwickelte er mit Juan Miranda das Theaterstück The Sense of Belonging mit Jugendlichen am Schauspiel Hannover. Das Theaterstück COMA gewann ebenfalls 2022 das Hans-Gratzer-Stipendium und wurde am Schauspielhaus Wien uraufgeführt. Die gleichnamige Graphic Novel (gemeinsam mit Leonie Ott) erscheint 2023 im März Verlag. Seit 2019 ist er Dramaturg am Schauspiel Hannover.

 

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