von Luise Meier

 

Alleine über das Kollektiv nachdenken zu wollen, wirkt paradox. Wenn es möglich wäre, allein zu denken. Wenn es möglich wäre, allein zu schreiben. Oder allein zu sein. Wenn das Kollektiv nicht schon hier wäre. Das Kollektiv zum Beispiel, das mich in dieser Situation eigene vier Wände haben lässt und Strom, den Computer zu betreiben und Papier, um zu schreiben und das Kollektiv, das mich von der Pflicht zur Reproduktionsarbeit befreit. Und dann das Kollektiv, das die Gedankenwelten aufgetürmt hat, in denen ich mich bewegen kann, die an der Sichtbar- und Sagbarmachung des Kollektivs mit mir, vor mir und nach mir arbeiten. Die Vielen, die weiterschreiben oder die Lücken füllen oder hereinlesen, was zu sagen wäre, wenn ich weiterziehe oder abschweife oder einschlafe.

 

Wenn ich meine Wörter und Sätze über Intimität über kollektive Körper über die Notwendigkeit politischer und organisatorischer Veränderung schreibe, schreibe ich nicht den einen abgeschlossenen Text, der weiß wie die Welt zu ordnen wäre, um den Knoten endlich zu lösen, die Sache zu klären und reinen Tisch zu machen. Die Wörter fallen in eine bestehende Situation hinein. In eine Konfiguration der Welt, die veränderbar und veränderungsbedürftig ist. Im besten Fall entstehen Verknüpfungen, neue Konfigurationen, werden Reaktionen hervorgerufen.

 

Die Buchstabensuppe schreibt zurück und liest sich anders. Wir schreiben in das schon entsponnene Gespräch hinein, immer in der Erwartung, dass jemand weiterspinnt und in dem Wissen, dass wir an etwas anknüpfen. Statt der Klärung bleiben lose Fäden, die neu verwirrt werden können.

 

Es ist ein Test: Was ruft die Anordnung der Wörter hervor, wie verbindet sie sich mit dem Rest? Dabei steht man nicht außen und beobachtet das Experiment, sondern sitzt mitten drin, balanciert auf den Verbindungslinien, faulenzt in dichter gewebten Vernetzungen, wird von seidenen Fäden zusammengehalten.

 

Schreiben ist Denken, das man selbst denkt und auch wieder nicht. Es ist die Teilnahme an einem Kollektivkörper, an einem Organismus, dessen unabtrennbarer Teil wir sind. Und es ist die eigene Zerteilung. Der Satz der zuvor geschrieben wurde, kann schon der Widerspruch des nächsten Satzes sein oder seine Provokation, die Frage danach oder seine Verunmöglichung. Es ist ein abwechselndes gesteuert werden und steuern, tasten. Das Drin-Sein, Im-Text-Sein, texten und getextet werden, sprechen und gesprochen werden, handeln und gehandelt werden ist Intimität – ‚intimus' – innerstes.

Nicht Intimität zwischen zwei abgeschlossenen Individuen, sondern eine andere, unsichtbarere, aber gleichsam extremere Intimität. Eine Intimität, die wir ignorieren können, aber von der wir uns nicht trennen, die wir nicht vor die Tür setzen, von deren Berührungen wir uns nicht freimachen können. Von der uns die klar abgegrenzte Intimität des Zweiergespanns, die äquivalente Zärtlichkeiten tauschenden Eigentümerinnen und die freiwillig handelnden Vertragspartnerinnen nur unzureichend ablenken können. Wer schreibt und wer wird geschrieben? Das wirkt wie ein textspezifisches Problem, aber es geht tiefer in die Fragen der Produktion und Reproduktion hinein. Es berührt die Frage der Produktionsverhältnisse, die sich selbst hinter den Dingen und Individuen verstecken, die das Kollektiv hinter der Zählung von Einsamkeit und Zweisamkeit verschwinden machen.

 

 
Illustration: Laura Robert
 

 

Donna Haraway schreibt in Staying with the Trouble, dass es wichtig ist, welche Gedanken die Gedanken denken. Denn nicht nur denken die Denkenden die Gedanken, sind die Gedanken in den Denkenden, sondern die Denkenden sind auch in Gedanken. Die Gedanken denken die Denkenden. Innerstes in beide Richtungen. Oder mit Marx: Die Produzierenden produzieren das Produkt, das wiederum die Produzentinnen produziert. Die Produzierenden werden produziert durch das Produzierte oder die Produzentin ist das Produzierte und das Produkt ist das Produzierende. Alles im Plural und im ständigen Hin und Her. Was, wenn nicht diese Art von wechselseitiger Verschlungenheit sollte Intimität genannt werden? Und wenn es kein Abschneiden der wechselseitigen Verschlingungen geben kann, dann könnten wir mit Haraway sagen: es ist von Bedeutung, welche Produkte wie produzieren und produziert werden. Oder, wenn wir ändern wollen, wie wir produziert werden, müssen wir anders und anderes produzieren. Der lange Marsch durch die Verschlingungen. 

 

Zum Beispiel die Maschine, an der man schraubt und die einen dabei umbaut, den Körper umbildet, zu ihrem Produkt macht, den Rücken krümmt, die Augen blendet, das Handgelenk verformt: Wie muss die Maschine so umgebaut werden, dass der Körper nicht an ihr verkümmert? Oder das globale Gesundheitssystem: Wie müsste es umgebaut, aus den vielen nationalen Systemen neu zusammengesetzt werden, so dass der Körper, der in die falsche Nationalität verstrickt ist, nicht an ihm stirbt? Oder die Fabrik, wie muss sie umorganisiert werden, damit die Fabrikarbeiterinnen nicht ausgebeutet werden? Und wie muss die ganze Lieferkette, an der die Fabrik dranhängt, neu geknüpft werden, damit die intime Beziehung zwischen mir, meiner billig produzierten Unterwäsche und der Fabrikarbeiterin, die keine Pause hat, um aufs Klo zu gehen, für uns beide erfüllender ist? Kommt es darauf nicht an, in einer Intimpartnerschaft – erfüllende Beziehungen?

 

Wenn wir die Schöpfung nicht als Null betrachten, also vom vermeintlich leeren Labor, tabula rasa, der gerodeten Landschaft starten, dann geht es nicht allein um Produzierende und Produkt sondern um Reproduktion, Umbau und Reparatur. Dann lässt sich nicht nur das Produzierende nicht vom Produzierten unterscheiden, sondern dann fädeln sich noch die unzähligen Ablagerungen und abgeschnittenen Reststücke des vormals Produzierten, der Geschichte, der Mülldeponien und der tausendfachen Wiederholungen patriarchaler, kapitalistischer, rassistischer Mantren hinein. Wenn wir nicht von der leeren Welt, der unberührten Natur ausgehen, sondern wie Haraway und ihre zahlreichen Mitproduzierenden und Mitproduzierten von der beschädigten Welt und den Kontaminierten, Ruinösen, Porösen, Störenden und Gestörten, Abgestoßenen, Vorerkrankten und Abhängigen, dann geht es ums Umbauen, Anbauen, Reparieren, Justieren, Recyceln, Ölen, Behandeln, Organisieren und Umstrukturieren des Materials, das nicht zuletzt wir selbst sind. Dann geht es um Verweigerung der bloßen Reproduktion. Es geht aber definitiv nicht um die große Klärung, Lösung oder Säuberung.

 

Das ist sehr intim, denn wir stecken tiefer drin und es geht tiefer in uns hinein, als die Geschichte vom Ich, das da steht, die alte Welt abschüttelt, sich selbst gleich bleibt und den Winden trotzt, eingebunkert in seinen Körper und gottgleich Objekte schafft, zurichtet, ordnet, ausschöpft und überwacht, die ihm äußerlich bleiben.  

 

Marx hat das Proletariat als Gegensatz zur Illusion der Identität, der Unteilbarkeit, Ganzheit und gottgleichen Unabhängigkeit des bürgerlichen Subjekts beschrieben oder erfunden. Das Proletariat weiß um sich als vom Kapitalismus produziertes Produzierendes. Es weiß um seine intime Verschlungenheit in die Maschinerie, um seine Anhängigkeit, um seine Beschädigung. Es weiß um sich als blauer Fleck am kollektiven Menschheitskörper und es will nicht mehr es selbst sein. Es will sich nicht gleichbleiben. Nichts zu verlieren zu haben als seine Ketten, bedeutet, sich verlieren zu können. Zum Beispiel in einer anderen verschlungenen Intimität ineinander und mit der Welt. Oder sich zu verlieren als Produkt und Produzierende der falschen Verkettung. Es ist wichtig, welche Verkettungen die Verketteten verketten. Um sich neu zu verketten, muss man erst einmal sehen, wo die vorhandenen Verkettungen entlangführen, dass Verkettungen zu einem hin und von einem weg führen. Dass wir keine Individuen sind und sein können ohne ein Teil der Vielen, des Kollektivs zu sein, das in viele aufgeteilt wird. Schließen wir die Verwirrungen also mit einem weiteren Paradox:

 

Wir befreien uns von den Ketten durch Verkettung. Wir klären auf durch Verwirrung. Wir produzieren, indem wir uns produzieren lassen. Wir können alleine sein durch die Anwesenheit des Kollektivs, durch das Intim-Sein im Kollektiv.  

 

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Luise Meier arbeitet als freie Autorin und Dramaturgin in Berlin. 2018 veröffentlichte sie ihr Buch MRX Maschine bei Matthes & Seitz Berlin. Ihre Texte erscheinen u.a. im Freitag, auf der Homepage der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, in Publikationen des HAU Berlin, in der jungle world, in Theater der Zeit und in der Berliner Zeitung.

 

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